60 Jahre Vertreibung und Flucht

Ansprache von Herrn Dipl.-Theol. Dipl.-Psych. Franz Herzog, Leiter der Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge, am 10. Juli 2005 bei der Gelöbniswallfahrt der Donauschwaben zum Marienheiligtum in Altötting

Versöhnte Zukunft braucht gelebten Glauben

Liebe donauschwäbische Landsleute,

es ist mir eine große Ehre und Freude, dass ich an der heutigen Gelöbniswallfahrt der Donauschwaben zum Marienheiligtum nach Altötting teilnehmen und als Leiter der Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge zu Ihnen sprechen darf.
Selbst Donauschwabe, geboren in der Provinz Wojwodina im ehemaligen Jugoslawien, mein Heimatort väterlicherseits ist Kernei bei Sombor, mütterlicherseits Franztal bei Belgrad, und als einer, der mit den Eltern und Geschwistern die alte Heimat verlassen musste, bin ich aus tiefster Überzeugung und enger Verbundenheit hierher gekommen.
Ich darf Ihnen herzliche Grüße des Vorsitzenden der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Joachim Wanke der Diözese Erfurt, selbst Heimatvertriebener aus Schlesien, überbringen. Vor drei Jahren nahm er an dieser Gelöbniswallfahrt teil und feierte mit Ihnen den Gottesdienst in dieser Basilika.
Herzlichst grüßt sie ebenfalls der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge, Weihbischof Gerhard Pieschl von der Diözese Limburg, vertrieben als Zwölfjähriger aus Mährisch-Trübau

Versöhnte Zukunft braucht Erinnerung, Umkehr und Behutsamkeit

2005 ist das Jahr der 60. Wiederkehr von Kriegsende, Vertreibung und Flucht. Die Schreckensbilanz des Zweiten Weltkrieges und die NS-Diktatur als schrecklichster Teil deutscher Geschichte darf nicht vergessen werden. Aber es gab auch Opfer in unserem Volk, deren wir gedenken müssen: die Gefallenen und in Kriegsgefangenschaft Gestorbenen, die Bombenopfer, die unschuldig Umgekommenen und die vielen unbekannten, nur zu oft vergessenen Leidenden. Zur Schreckensbilanz gehören auch die Opfer von Flucht, Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit, der Verlust der Heimat, der Menschenwürde, des Eigentums, vielfach verbunden mit Invalidität und Tod.
Das Schicksal der deutschen Volksgruppe im ehemaligen Jugoslawien, in Ungarn und Rumänien war eines der grausamsten in der Mitte des 20. Jahrhundert und übersteigt bis heute unser Fassungsvermögen. Das erlittene Unrecht ist ein bleibender Schmerz.
Im Vertrauen auf Gott und unter dem Schutz der Gottesmutter haben die Donauschwaben mit großem Fleiß und der ihnen eigenen Strebsamkeit, haben alle Heimatvertriebenen mit allen Kräften mitgeholfen, die durch Krieg und Vertreibung entstandene Not zu überwinden.
Sie haben auf die religiöse, wirtschaftliche, politische, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung wesentlichen Einfluss genommen und ihren Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands und zum Wachsen eines geeinten Europas geleistet. Sie waren keine Belastung, sondern sind ein Gewinn für unser Gemeinwesen - bis heute.
Trotz der Erfahrungen mit Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgen auch heute wieder “ethnische Säuberungen und Vertreibungsverbrechen”. Im vergangenen Jahrhundert sind bei mehr als 100 kriegerischen Auseinandersetzungen über 100 Millionen Menschen vertrieben worden oder im Zuge ihrer Vertreibung einem Völkermord zum Opfer gefallen. Gerade im ehemaligen Jugoslawien haben die Menschen dies schmerzlich erfahren müssen. Was in den Nachkriegsjahren an den Deutschen geschah, fand Ende des letzten Jahrhunderts seine Wiederholung in Bosnien-Herzegowina, in Serbien und im Kosovo: Hass und Rache statt Verstehen, Versöhnen und Verzeihen.
Vertreibung ist ein großes Unrecht und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Menschen aus ihrem vertrauten Lebensraum zu vertreiben, ist eine Sünde vor Gott und den Menschen. Kein anderer Mensch und erst recht kein Politiker dürfen sich über das Heimatrecht als Grundrecht eines jeden Menschen hinweg setzen. Vertreibung als probates Mittel der Politik muss rund um den Globus geächtet werden und geächtet bleiben.
Versöhnung unter den Völkern kann aber nur stattfinden, wenn die berechtigten Anliegen aller Beteiligten in Wahrheit, Gerechtigkeit, Vergebungsbereitschaft und Sorge um das bestmögliche Wohl aller geprüft und berücksichtigt werden. Im Dienste einer tragfähigen Nachbarschaft in Europa ist daher eine offene, behutsame und ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen und der gemeinsamen Vergangenheit und Geschichte notwendig:
Ohne Kenntnis kein Verständnis, ohne Verständnis keine Einsicht, ohne Einsicht keine Reue, ohne Reue kein Verzeihen, ohne Verzeihen kein Friede!

Versöhnte Zukunft fordert Verständigung, Handeln und Gedenken

2005 - am 5. August - ist der 55. Jahrestag der Proklamation der “Charta der deutschen Heimatvertriebenen”. Der christliche Glaube war auch richtungweisend für die Formulierung der “Charta”. Sie ist die erste Gewaltverzichtserklärung und das erste Friedensdokument nach dem Zweiten Weltkrieg und besitzt für die Heimatvertriebenen als Ausdruck ihrer Grundhaltung bis heute Gültigkeit.
Die Heimatvertriebenen haben den Gedanken auf vergeltungsartige Sanktionen entsagt, aber keineswegs ihre elementaren, im Völkerrecht verankerten Rechte preisgegeben. Von Anfang an war es Grundsatz der Heimatvertriebenen, mitzuwirken an einer Versöhnung unter den Völkern Europas. Sie haben in den zurückliegenden Jahrzehnten als “natürliche Übersetzer des Verständigungswillens” unverzichtbare Versöhnungsarbeit und materielle Hilfen für die Menschen in den Ländern ihrer alten Heimat geleistet.
Die politische Wende 1989/90 machte auch in den Ländern Südosteuropas sichtbar, dass die dort über Jahrzehnte herrschenden Unrechtsregime des Kommunismus das religiös-kirchliche Leben nahezu zum Erliegen gebracht haben. Eine Wiederbelebung wird ein schwieriges, ein langwieriges Unterfangen sein. Denn die gefährlichen Nationalismen sind noch längst nicht tot, im Gegenteil. Sie tauchen immer wieder auf. Das neue Europa braucht weitere Bemühungen, um alte Gräben zuzuschütten und die begangenen Wege der Verständigung und Aussöhnung noch verlässlicher zu machen.
Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, Metropolit der Erzdiözese Freiburg, ein Donauschwabe aus Filipova im ehemaligen Jugoslawien, als Sechsjähriger im Todeslager Rudolfsgnad interniert, hat in seiner Rede aus Anlass des 60. Gedenktages der AVNOJ-Beschlüsse am 24.11.2004 in Berlin mahnend hervorgehoben:
“Wir können Geschehenes nicht ungeschehen machen. Das müssen wir in unser Gedenken, in unsere Erinnerung und Trauer hinein nehmen…
Wer all die menschlichen Schicksale, das vielfältige Leid, die unfasslichen Geschehnisse um unsere Landsleute verdrängt, der macht sie ein weiteres Mal zu Opfern, zu Opfern des Vergessens…
Jeder und jedem Einzelnen von uns hätte es ja genauso das Leben kosten können wie ihnen…
Wir brauchen auf dem Weg in die Zukunft Orte des Gedenkens und der Vergewisserung.
Zudecken beschwört Gefahren herauf nicht Gedenken.”

Versöhnte Zukunft geschieht aus der Kraft des Glaubens

Die Gelöbniswallfahrt der Donauschwaben zum Marienheiligtum nach Altötting ist ein solcher Ort der Vergewisserung und seit 1959 Jahr für Jahr ein beeindruckendes Glaubenszeugnis gelebter Erinnerungskultur.
Die Donauschwaben haben im Leidensweg Marias, die auch viele Ereignisse nicht verstand, aber im Herzen erwog, selbst ihren eigenen Weg erkannt. Maria ist für uns Christen Zeichen der sicheren Hoffnung und des Trostes. Wir verlieren die Richtung nicht, wenn wir uns an ihr orientieren. Denn wo Maria ist, da ist ihr Sohn Jesus Christus. Maria ist nicht nur die Mutter Jesu, sondern unter dem Kreuz auch unsere Mutter geworden.
So wie Maria mit ihrem Glauben und ihrem “Magnifikat” (Lk 1,46 ff.) eine Antwort auf das Ja Gottes gegeben hat, so wollen die Donauschwaben Gott für sein Geleit, auch in Zeiten größter Not, danken und hier und heute “Rechenschaft geben über die Hoffnung, die in uns ist” (1 Petr 3,15). Als Christen leben und bezeugen wir, dass die versöhnende Kraft Jesu Christi die Wunden der Vergangenheit heilen und eine menschenwürdige Zukunft eröffnen kann.
Der wichtigste Beitrag unseres Glaubens zu einer Kultur der Erinnerung und des Gedenkens besteht darin, auch die Frage nach den Toten und ihrem Schicksal wach zu halten, gerade auch nach den Verschollenen und den Namenlosen, die menschenunwürdig in fremder Erde beerdigt wurden.
Die Hoffnung auf ewiges Leben umspannt die Lebenden und die Toten und vereinigt sie zu einer Gemeinschaft, die der Tod nicht auseinander zu reißen vermag. Die Kirche als Gemeinschaft versteht sich als Gemeinschaft der Lebenden und der Toten und ist deshalb Trägerin eines fortdauernden kulturellen Gedächtnisses über den Wechsel der Zeiten hinweg. Sie ist Erinnerungsgemeinschaft. Christen gedenken der Toten, weil sie leben, nicht damit sie leben!

Liebe donauschwäbische Landsleute,

eine christlich geprägte Kultur des Gedenkens und der Aussöhnung hat vielfältige Orte, Formen und Zeichen. Ihren gültigsten Ausdruck findet sich im Gebet und in der Eucharistiefeier. Deshalb haben wir uns bei dieser Gelöbniswallfahrt - im Eucharistische Jahr 2005 -zur heiligen Messe mit dem Leitwort “Tut dies zu meinem Gedächtnis” (Lk 22,19) zusammengefunden: Gott lobend, Gott dankend, Gott bittend!
Als Zeitzeugen und Nachfahren sind wir auch künftig gehalten, das Gelöbnis im Zeichen des Gedenkens an die tragischen und schicksalhaften Ereignisse von Vertreibung und Flucht, Deportation und Verfolgung der Donauschwaben im ehemaligen Jugoslawien, in Ungarn und Rumänien vor 60 Jahren zu erfüllen und unser Leben im Vertrauen auf Gott und unter dem Schutz der Gottesmutter Maria auszurichten.

2017-02-06